Beim Aufräumen fiel mir just ein Bild in die Hände, das ich 1985 im Kunstunterricht von meinem allerersten NIKE gezeichnet habe. Zu der thematischen Aufgabe »Stillleben« hatte ich das Paar zufällig – aufgrund des Sportunterrichts am selben Tag – im Rucksack parat. Ein deutlich attraktiveres Objekt als der vorhandene Kunstharzapfel oder die Kneifzange, fand ich. Ein feiner Anlass, annähernd drei Sneaker-Dekaden Revue passieren zu lassen.
1984 kauften mir meine Eltern bei American Sports in der Rentzelstraße, Ecke Bundesstraße (seit rund 15 Jahren residiert dort ein Copyshop), mein erstes Paar NIKE, Modell Legend: weißes Leder mit dunkelblauer Schwinge und dunkelblauer Sohle. Ein Basketballschuh, entwickelt für schwere Spieler. Dabei wog ich seinerzeit ein paar Unzen unter Fliegengewicht.
Egal, der Legend wurde damals in der hohen Version von der NBA-Legende Patrick Ewing getragen, das reichte, um ihn auch haben zu wollen nach so vielen Jahren adidas und Puma. Warum? Vermutlich, weil man plötzlich eine kleine US-Marke cooler fand, zu der man erstmals ein Gesicht hatte, einen Visionär namens Phil Knight, mit Vollbart und ohne Anzug, anstatt – so dachte man als Teenager – die heimischen Geschäftsmänner aus Herzogenaurach, die zerstrittenen Gebrüder Dassler mit den Marken unserer Väter. Folglich kaufte man sämtliche Marken, die aus dem coolen, unorthodoxen, sportverrückten Amerika kamen: NIKE, Vans, Converse. Das war der erste Schritt. Denn plötzlich waren »Sportsachen« und Sportmarken alltagstauglich geworden. Bisher haben wir Sportsachen und Sportschuhe außerhalb des Sportunterrichts einfach zusätzlich getragen, in unserer Freizeit. Dafür wurden wir oft kritisiert und schief angekuckt von Eltern, Lehrern, Ärzten und der Gesellschaft an sich. »Turnschuhe sind schlecht für die Füße«, hieß es stets und überall.
Mitte der Neunziger waren Sportsachen für den Freizeitbereich etabliert. Der Begriff »Casual« wurde salonfähig. Supportet und legalisiert und hip gehyped auch durch Presse und Fachmagazine. Sportsuperstars wie Beckham und Co sah man privat immer in Chucks, Jogginghose, Schlabberlook. Sie wurden zu Multiplikatoren, Markenbotschaftern und Testimonials. Bereitwillig wollte jeder im Sportbusiness mitmischen. Damals noch überwiegend Leute, die auch aus dem professionellen Leistungssport kamen und Ahnung von Sport hatten und von den Anforderungen an das Equipment. Experten und Profisportler, die die Schuhmodelle von Beginn an aus der Praxis kannten.
Parallel sorgte Hip Hop für eine komplette Wandlung des Marktes. Ebenfalls anfangs stark belächelt und als vorübergehende Phase abgetan. Doch auf einmal wurde Mode nicht mehr nur von Designern bestimmt. Die Helden und der Hype kamen von der Straße! Authentizität und Street Credibility waren die neuen Verkaufsargumente. Man besann sich auf die Anfänge von Graffiti, Street Art und Street Basketball sowie Rap in den urbanen USA, Ende der Siebziger. Und plötzlich war adidas angesagter als je zuvor. Denn Authentizität braucht Heritage. Das clevere Segment „Originals“ war geboren. Rapper lösten die Profisportidole der Siebziger, Achtziger, Neunziger ab. Arbeitskleidungslabel »von der Straße« wurden der Renner. Hallo Carhartt, hallo Dickies. Der Begriff »Streetwear« wurde geprägt. Und weil das Ganze explizit auf der Straße entstand und entsteht, drängten sich noch mehr Leute ins Business. Die Filter »Sportler« und »Sportexperte« entfielen. Dafür war man nebenbei vielleicht noch DJ, Grafiker oder wurde Sneakersammler. Auf die Weise entstanden erste große Querverbindungen zur Clubszene.
Paradoxerweise galt bis Anfang der Neunziger jedoch an jeder guten Clubtür: »Sorry, no Sneakers!« Was tun? Die »Streetwear« musste irgendwie salonfähig werden und zumindest teilweise runter von der Straße. Zudem wurden die Macher hinter den Streetwear-Labels auch älter. Man wollte nicht mehr nur mit Teenagern in Baggy Pants und Basecaps auf Hip-Hop-Events rumhängen.
Es kam zur Spezifikation der »Casualwear« und »Clubwear« und es entstand die Sparte »Fashion«. Wow! Nun wurden auch andere Marken hellhörig und sahen enormes Potenzial in »Street Credibility«. Vor allem für die bisher modisch unterversorgte Zielgruppe Männer. Denn die trugen bislang nur einen Schuh – und den meist so lange, bis er auseinander fiel.
Mit dem Beginn des neuen Jahrtausends kam, was kommen musste. Die natürliche Evolution und die unnatürliche Gier nach immer mehr waren Schuld, ebenso wie der instinktive Trieb nach Kommerzialisierung und sozialem Upgrade: Jede Klassifizierung wurde upgegradet oder stellte sich einfach selber eine Stufe höher. Sportswear wurde Streetwear wurde Casualwear wurde Clubwear wurde Fashion wurde Urban Superior wurde Premium Fashion wurde Designer Fashion wurde Haute Couture.
Seit 2005 wurde dann eine neue Entwicklung stark ausgeprägt, wenn nicht allmählich sogar ausgereizt: einerseits die Limited Edition, also die Marketing bedingte, künstliche Verknappung. Und noch effizienter: die Collaboration, formerly known as Kooperation. Weil Image-Kampagnen Zeit- und Geld-intensiv sind und Know-how voraussetzen sowie Marketing, was viel Geld und Manpower bedeutet, welches man nicht investieren will oder kann (bzw. weil in den Unternehmen auf Kommunikationsseite oftmals nur noch Quereinsteiger sitzen, die von Marketing und Markenbildung null Ahnung haben und schlimmer – die die Notwendigkeit hierfür weder sehen, noch verstehen).
Mittels einer Collaboration kamen viele angesagte und auch tot geglaubte Marken auf folgende Idee: Wir stecken etwas Hartgeld in die Zusammenarbeit mit hippen Marken und angesagten Designern auf der ganzen Welt. Das hat PR-Potenzial und wertet unsere piefige oder kreativ stehengebliebene Marke auf. Und – it works! Bei manchen Marken macht es Sinn. Bei einigen sogar großen Spaß.
Seit 2007 spielen Blogs eine größere Rolle. Auch die klassische Mode-PR-Agentur kann man sich anscheinend sparen. Denn bei einer hippen Collaboration mit einer zornigen Marke und einem gern exzentrisch introvertierten Designer mit erhöhtem Geltungsdrang aus einem Hinterhof in Kopenhagen, London, Stockholm oder Berlin-Pankow lässt sich genug Potenzial schöpfen für kostenlosen Blog-Support. Die Produkte selbst sind oft irrelevant. Was zählt, sind Name-Dropping und Hintergrundinfos über Belanglosigkeiten. Je detaillierter und abstruser, umso cooler für die Dream Society. Beispielsweise: »Wusstest du, dass die NIKE Schwinge ursprünglich aus einem balinesischen Kautschuk und heute aus einem mit Maisstärke eloxierten, handgezupften Baumwoll-Gore-Tex-Hybrid aus dem afrikanischen Zimbabwe gefertigt wird?!« Ob’s stimmt ist zweitrangig. Jeder will schlauer und cooler sein als der andere. Mit unnützem Wissen glänzen und mit Erstbesitz oder Mengenbesitz, Stichwort: Sneakersammler. Es scheint nicht wichtig, wer was trägt. Wichtiger scheint zu sein: wer hatte den Schuh zuerst oder: wer hat die meisten.
Was dabei zusehends in den Hintergrund gerät, ist der Abverkauf der Produkte. Der klassische Store ist out, bzw. irgendwie tot, zumindest in einer Phase des latenten Wachkomas. Der ganze Stuff ist allein in den letzten 10 Jahren preislich um ein Vielfaches teurer geworden. Klar, der Begriff »limited« rechtfertig gern einen hohen Preis. Aber als Marketingleute – echte wie selbst ernannte – wissen wir auch, dass so eine »künstliche Verknappung« immer zieht und die Ratio dominiert. Cleverness hin oder her: Zwar ist das Produkt qualitativ Mist und oftmals optisch eher grausig, aber – weltweit gibt es davon nur 5.000 Paar. Wow! Haben wollen!
Willkommen im Jahr 2012. Aktuell sieht der Markt aus wie folgt: Die Sammler und Nerds kaufen ihren Stuff überwiegend online und weltweit. Die Opinion Leader, News Spreader und Early Adopter werden von den Brands ausgestattet und bemustert. Die Local Nerds supporten ihre kleinen feinen Stores, sind aber bei speziellen Wünschen in den Arsch gebissen: Denn ein kleiner Store hat auch nur ein kleines, ausgewähltes Sortiment. Und wenn beispielsweise adidas pro Quartal mit vier spannenden Collaborations-Partnern aufwartet (Kazuki, Beckham, Jeremy Scott, Star Wars), dann kann das definitiv niemand alles in einem analogen Store anbieten.
Folglich kommt es zu fraktalen, gewollt zwangsindividuellen Bestückungen der Shops. Wer dann ein bestimmtes Teil aus der Star Wars-Kollektion sucht, der startet eine Reise nach Jerusalem: Der eine hat nur einen Teil der Schuhe, der andere nur einen Teil der Jacken, der dritte weder noch. Persönliche Beratung hin oder her, schickes Shopkonzept und coole Beats auch fein, aber: Das komplette, längst gigantisch gewordene Sortiment findet man geballt nur noch an einem Ort: im Netz.
Dabei ist es vielen sogar egal, wo sie kaufen. Der routinierte Global Player orientiert sich zudem an Dollarkurs, Yen und Pfund. Hier überschneidet er sich mit dem Sparfuchsshopper: Die »Aasgeier der Mode« haben sich spezialisiert auf Sale und Preisreduktion und gnadenloses Preisevergleichen. Das ist längst ein eigener Markt und ironischerweise »Sport«. Ein Sport, der sich mit seiner 365-Tage-Dauer-Sale-Competititon mittelfristig ins eigene Knie schießt.
Resümee: Wir loben den kleinen feinen Store wie Cream in Hamburg, Civilist Berlin, TGWO Köln, Hideout London, DQM New York, aber gekauft wird zunehmend bequem und online. Die störende Anonymität dort wird aufgebrochen durch die Du-Ansprache auf sämtlichen Social-Media-Kanälen. Wenn es sein muss, macht man hier auch noch eine kleine Collaboration. Und damit die übrig gebliebenen kleinen Image-Stores in ihrem Don-Quijote-Windmühlenkampf nicht das Handtuch werfen, macht man auch mit denen eine Collaboration – ebenfalls primär gut fürs Markenimage, nicht fürs Portemonnaie, nicht für die Rentabilitätskurve. Da bekommt der kleine Einzelkämpfer kurz das Gefühl, er wird von der großen Marke geschätzt und Ernst genommen.
Zwischen Markenmachern und Sneakersammlern übernehmen Magazine wie Sneaker Freaker die Rolle des ambitionierten, fachkundigen Vermittlers. Online wie offline sind sie das verbindende Element zwischen Marken-PR-Arbeit und Meinungsspiegel der Jäger und Sammler zeitgenössischer Sportschuhästhetik.
Mal schauen, wie sich das alles weiterentwickelt. Es bleibt spannend. Und wer weiß, vielleicht bringt NIKE ja den Legend irgendwann noch mal auf den Markt. Mir wäre er heute wohl eh viel zu schwer. Darum schlüpfe ich nun in einen bequemen adidas Decade Hi, die matt silberne Gaffa-Variante aus der limitierten »4 Elements of Hip Hop Edition«, Herbst 2008. Also, nicht vergessen: Support your local Fashion- and Sneaker Stores!