Es gab eine Zeit, da trug man einen Schal aus einem einzigen Grund: zum Schutz vor Kälte. Somit überwiegend im Winter. Doch das ist lange her. Damals nutzte man Telefone noch zum Telefonieren und Bärte trugen ausschließlich Religions- oder Deutschlehrer an liberal ausgerichteten Gymnasien. Binnen der letzten acht Jahre hat der Schal etwas geschafft, was vielen seiner Träger bis heute nicht gelungen ist: er ist salonfähig geworden.
Der Schal ist ein Ganzjahres-Accessoire. Für Frauen und Männer. Vorwiegend aus dem Modebusiness, dicht gefolgt von der Werberzunft. Angefangen hat alles mit den schnurlangen, einfarbigen Baumwollschals von American Apparel, die die Marke über Nacht bekannt machten. Der Schal wurde einmal um den Hals gewickelt, die beide Enden baumelten unprätentiös wie Schnüre, links und rechts am Körper herunter. Meiner war schwarz und das Tragen noch ähnlich einer Mutprobe: ein Kerl mit einem Schal und das im Frühling. Junge, du traust dich was!
Ähnlich dann auch die Reaktionen 2005 im Bekanntenkreis. Hier gaben sich folgende drei Frageklassiker die kognitive Klinke in die Hand: »Bist du krank?«, »Was soll der tuntige Schal?«, »Bist du Künstler oder was?«
So etablierte American Apparel den nicht am Hals kratzenden, schlichten Baumwollschal in allen nur erdenklichen Dropsfarben an den Hälsen hipper Fashionisten. In der Menge sah das oft unfreiwillig komisch aus – wie eine Horde Fastgehängter, die mit dem Strick um den Hals in letzter Sekunde einem Lynchmob entkommen ist.
Nun tauchten weitere Marken auf mit Mustern und unterschiedlichen Längen und Breiten. Mein dunkelblau-cremeweiß-gestreiftes Exemplar aus dem dänischen Hause Kudo trug ich an sich gern. Genau bis zu dem Tag als mich mein nicht heterosexueller Opernsängerkumpel feixend fragte, ob ich eine geschmolzene Zuckerstange um den Hals tragen würde.
Der große Durchbruch des Schals mit Ausmaßen einer traditionellen Halskrause gelang dem avantgardistischen Modedesigner Henrik Vibskov. Das waren keine Schals, das waren Kunstwerke. In Material und Design ebenso wie in der aufwendigen, artifiziellen Wickelform. Mit Vibskovs Einfluss wurde der Schal zum Ausdruck einer neuen Exzentrik.
Die Baiser-artigen Bollwerke an den Hälsen hatten tatsächlich was von einer Halskrause – jenem gestärkten Leinenkonstrukt des 16. Jahrhunderts, mit einer Brennschere röhrenförmig getollt zum so genannten Pfeifenkragen. Bereits damals wurde die Halskrause als modisches Element von der seriösen Oberschicht beim Ausgehen getragen. Interessanterweise auch da schon ein Unisex-Accessoire, für Mann und Frau.
Heute sieht man die Halskrause nur noch bei lutherischen Pastoren als Teil des Talars, vorwiegend in norddeutschen Städten und in Dänemark. Die Älteren erinnern sich noch an das tradierte Flaschenetikett der Hamburger Biermarke »Ratsherrn Pils«, auf dem ein hanseatischer Amtsmann mit blütenweißer Halskrause feierlich prostend die Pilstulpe reckt.
Hamburger Ratsherren? Dänische Pastoren? Kein Wunder, dass der wiedererweckte Schalboom in nordischen Städten wie Kopenhagen und Hamburg besonders forciert wird. Wie Mode im Allgemeinen ist auch der Schal im Besonderen Ausdruck der eigenen Persönlichkeit. Er kann ein schlichtes Outfit radikal kontrastieren oder einen Look konsequent perfektionieren. Allein durch seine Position am Hals – und damit in Augenhöhe des Betrachters – ist der Schal ein perfektes Vehikel zur Kontaktaufnahme. Denn das Gefieder hat ja klar auch immer eine Wirkung auf andere.
Der Schal verhüllt nicht, er offenbart. Der Halsschmuck wird zum Balzschmuck und verrät mehr über die Bereitschaft zu Kommunikation, als manch Träger wahrhaben möchte.
Interessant dabei ist auch, dass gerade der unverdeckte Hals und die Vena jugularis interna, also die Drosselvene hinter dem Kopfnickermuskel und parallel zur Halsschlagader, traditionell die Fläche am Körper ist, die evolutionsbedingt die meisten Pheromone ausschüttet, so genannte Botenstoffe im Dienste der biochemischen Kommunikation, kurz: zum Finden von Geschlechtspartnern. Daher kommt auch der klassische Ausspruch, dass man jemanden »gut riechen«, bzw. »nicht riechen« kann.
Und ausgerechnet diese sexrelevante Körperpartie wird unbewusst verdeckt, umwickelt und versteckt – mit der Absicht modischer Aufwertung, Zeigen des gehobenen Geschmacks und ironischerweise unterschwelliger Aussendung eindeutiger Kontaktsignale. Die These »je auffälliger der Schal desto belangloser der Fickfaktor« ist jedoch unbewiesen.
Der Schal ist gegenwärtig so omnipresent, dass er kaum noch auffällt. Keine Castingshow, in der nicht jeder noch so farblose Wicht beschalt wird. Kein Fashionevent, auf dem nicht vier von fünf Typen Schal tragen.
Tätowierter Hip-Hopper, gepumpter Jeanstyp, androgyner Fashionist, akzentsetzender Sachbearbeiter: der Schal ist ganzjährig nicht mehr wegzudenken. Inzwischen wird global einheitlich gewickelt – egal, ob ein Meter, zwei oder drei.
Modisch unbeeinflusste Ausnahme ist der Ü-50-Mann im Fußballsport und Fernsehkrimi. Ob Trainerlegende Felix Magath oder klassischer Serienermittler: sie alle tragen nach wie vor den zeitlosen 1,20 m kurzen Lambswoolschal mit Schottenmuster, gewickelt in der saloppen Doppelschlinge: uneitel, praktisch und achtziger, mit der unmissverständlichen Aussage: »Ich trage Schal, weil es kalt ist«.
Einen nicht unerheblichen Anteil an der Schalrevolution trägt Lotte Erfurt. Die Designerin aus Aarhus startete 1997 ihr Luxusaccessoire-Label Erfurt und präsentiert seitdem hunderte Farb- und Formvarianten.
Die Schals mit dem auffälligen roten Logoquadrat sah man bald auf jeder hippen Veranstaltung. Nur nicht in Berlin. Hier wurde man oft mit Unverständnis angesehen. Vermutlich weil Erfurt im Osten sofort mit dem gleichnamigen und faden Freistaat in Thüringen assoziiert wird, das 2002 durch das Schulmassaker zu tragischem Ruhm gelangte. Berlin setzte von Anfang an auf Vibskov und lokale Brands wie Lala Berlin.
Aktuell gibt es kaum ein Modelabel, das keine eigenen Schals im Programm hat. Zwei nennenswerte, kleine feine Brands aus Hamburg sind Le.Sens von Designerin Leonie Sens und Esperando von Moritz und Johannes.
Mein Favorit ist ein graugestreiftes Modell von Becksöndergaard – aus Kopenhagen und organischer Baumwolle. Schick und dezent, schützt meinen Hals und hält ihn warm. Zugegeben, recht praktisch gedacht, aber ich bin ja auch oldschool.