Ein deutscher Hip-Hop-Film? Noch dazu im Jahre 2011. Gut 12 Jahre nach dem Zenit des deutschen Sprechgesangs? Das kann eigentlich nichts werden, dachten wir und gingen eher mit mulmigem Gefühl und geringen Erwartungen zur Vorpremiere von »Blutzbrüdaz«, dem fiktiven Werdegang vom gebürtigen Prenzlberg-Rapper Sido, der hier Otis heißt.
Ausgerechnet im Abaton. Wo sonst multikulturelle Studenten und diplomierte, spaßbefreite Damen mit frechen Kurzhaarfrisuren dem kultivierten Dokumentarfilm frönen. Na, das kann ja was werden. Wir rechneten mit krakeelenden Twen-Prolls in Baggy Pants und mitgebrachtem Dosenbier. Schließlich kommt der 1979 in Hamburg-Dulsberg geborene Regisseur Özgür Yildirim aus Mümmelmannsberg: jenem Viertel im Südosten Hamburgs, das schon in den Achtzigerjahren gern als sozial vergessenes Äquivalent zur New York Bronx tituliert wurde. Bestimmt hat der all seine Homies dabei, die sich selber feiern, weil sie sich als Statisten bei einer peinlich johlenden Konzertszene selber darstellen durften.
Flugse Überlegung: Gab es überhaupt je einen guten Hip-Hop-Film? Ja, sogar einige. »Wild Style« von 1983 ist ein großartiger Milieufilm mit den Beats von Fab 5 Freddie. »Beat Street« 1984 auch großes Kino, Musik: Arthur Baker. 1992 Ernest R. Dickersons »Juice« mit Tupac Shakur, Queen Latifah, Samuel L. Jackson. Dann kam lange nichts. 2002 die Eminem Biographie »8-Mile« und schließlich 2009 die Biggie Smalls Verfilmung »Notorious B.I.G.«. Allesamt großartige, glaubwürdige Filme.
Doch Hand aufs Herz: Bei dem Sido-Film »Blutzbrüdaz« erwarteten wir eher Klamaukiges à la »Erkan & Stefan« oder Überzogenes wie das selbstverliebte, jedoch erfolgreiche Regiebdebüt von Özgür Yildirim »Chiko« 2008, das mir persönlich damals mit diesem extremen Möchtegern-Hamburg-Slang-Gehabe ziemlich auf den Senkel ging. Nichts gegen Moritz Bleibtreu, aber die Rolle hab ich als Hamburger dem Münchner mit österreichischen Wurzeln nicht abgekauft.
Ich bin mit Hip Hop aufgewachsen Ende der Achtziger. Als man in der Schule noch belächelt wurde mit Basecap und Turnschuhen. Als das Konglomerat der drei Streetart-Breiche Breakdance, Graffiti und Rap noch eine Haltung repräsentierte. Weit bevor der schnöde Mammon Hip Hop seiner Authentizität beraubte. Weit bevor immer mehr gecastete Clowns in alberner Kleidung, mit dicken Autos und dicker Lippe Belanglosigkeiten zu Fließbandbeats reimten und Floskeln wie Worthülsen aneinander texteten, wobei schmerzfrei auch »isch« auf »Tisch« gestabreimt wurde.
Doch dann kam alles ganz anders. Schon im Foyer des Kinos zerplatzten erste Vorurteile. Viele bekannte Gesichter aus den letzten 15 Jahren Hamburger Szene und Musik: von Mahagony und Backspin Macher Gizmo bis Heinz Strunk. Vorhang auf, wir sind gespannt.
Donnerkeil! 87 Minuten und kein einziger peinlicher Moment. Die Story spielt im Osten Berlins im Jahr 2000. Gerechnet wird in D-Mark. Womit hingegen keiner rechnet: das Ganze hat Rasanz und Sprachgewalt. Sido und B-Tight überzeugen mit ungekünstelter Nonchalance.
Wummernde Beats dominieren das Geschehen. Skurrile Locations mit abgefahren abgeranzt stylishen Interrieurs, die allesamt und imposant nach Ostalgie der Siebziger aussehen. Die Dialoge sind frech, die Gags pointiert. Was den Film besonders sympathisch macht ist die Glaubwürdigkeit, Stichwort Authentizität – quasi die ursprüngliche Quintessenz und Definition von Hip Hop.
Hinzu kommt ein weiteres Phänomen, das es so noch nicht gab: Selbstironie. Özgür Yildirim hat es geschafft, dass toughe Jungs nicht toughe Jungs spielen. Sido kann über sich selbst lachen. Das ist in diesem Genre extrem ungewöhnlich und addiert dem Film zusätzliche Sympathien. Zu keinem Zeitpunkt clownesk und stets im Kontrast zu deftigen Rhymes und zotigen Lyrics, in denen kein Blatt vor die Lippen genommen wird, es sein denn, das Blatt ist aus getrocknetem Hanf.
Neben Authentizität und Selbsironie setzt Yildirim auf Casting. Hier nervt keine Promi-Aneinanderreihung. Auch die von Freund, Förderer und Produzent Fatih Akin üblichen Verdächtigen sind nicht dabei. Hier agieren echte Musiker, ungesehene Gesichter und tolle Charaktere.
Selbst der Boss der Plattenfirma ist kein Klischeetyp. Tim Wilde kennen »Tatort«-Fans aus mehreren Folgen. Auch Milton Welsh, den Besitzer des Plattenladens mit der sonoren Stimme kennt man, beispielsweise aus »Antikörper«, 2005. Absolute Neuentdeckung ist die attraktive Claudia Eisinger, die ich nur in Nebenrollen aus »Polizeiruf 110« und »Tatort« kenne. Apropos: An den Mischpultreglern als Tonmeister im Bonzenstudio, meine ich »Karlsen« – den langhaarigen, vollbärtigen Assistenten der Bremer »Tatort«-Kommissarin Inga Lürsen – erkannt zu haben alias Winfried Hammelmann. Sowie Timo Dierkes, den man als fiesen Schmierlappen aus »Das Experiment«, 2001 kennt: hier als Mikrofonverkäufer in einem piefig schrabbeligen Musikfachgeschäft.
Den Plot rund um den Aufstieg des Rap-Duetts namens »Blutzbrüdaz« und deren Verrat durch die Musikindustrie erzählt Yildirim flott und gekonnt mit klarer Botschaft und ohne moralischen Zeigefinger. Die Botschaft lautet »keep it real« – bleib dir selbst treu, sei cool, mach dein Ding. Hierbei greift Fatih Akins Gefährte und Schüler von Regielegende Hark Bohm – dessen Milieustudie aus Hamburg-Wilhelmsburg von 1976 »Nordsee ist Mordsee« noch heute als unterrepräsentierter Meilenstein dieses Genres bezeichnet werden kann – auch technisch zu ungesehenen Stilmitteln: beispielsweise seine »atmende« Kamera. Um Rasanz und Dynamit zu verstärken, wurde der Kamerakorpus auf eine flexible Plattform montiert und erzeugt so eine ganz eigene, flüssige Bildsprache.
Unterm Strich ist »Blutzbrüdaz« ein solides Stück Kinounterhaltung. Gute Gags, ein sympathischer Sido, ein Seitenhieb für alle Möchtegern-Bouncer und ein gut platzierter, kräftiger Arschtritt für die Major Labels. Aua! Oder ums mit Sido aka Otis zu sagen: »Das ist bitter, dann doch lieber Straße statt Gitter – auch wenn’s hier dreckig ist und stinkt wie ein getragener Schlübber«.
Offizieller Filmstart: drei Tage vor Jahresende, am 29.12.2011.